Herbstleben – Lebensherbst oder es wird November
Wir alle kennen den Lauf der Jahreszeiten, wissen, dass im Frühling die Natur aus ihrem Winterschlaf erwacht, im Sommer auf ihrem Zenit ist, um dann langsam in den Herbst über zu gehen. Es scheint als sei es ein letztes Geben der Kraft, wenn die Blätter ihre Farbe wechseln, bevor sie je nach Windstärke mehr oder weniger schnell zu Boden fallen. Die Zugvögel sind längst schon weg, sie nehmen eine lange Reise auf sich um unserem Winter zu entfliehen. Die Jungtiere sind alle soweit um für sich selbst Futter zu finden, sie sind flügge geworden. Herbst ist ein buntes Leben, ein letztes fröhliches Aufflackern in den schillerndsten Farben.
Im Winter gibt es keine bunten Blätter mehr, es sei denn die Stadtreinigung ist nicht mit ihrer Fegerei hinterher gekommen. Das Grün der Büsche, scheint dunkel wie die Stämme der blätterlosen Bäume. Sie alle, ich unterstelle nun mal, dass es so ist, bereiten sich darauf vor den Winter zu überstehen, sammeln nun Kraft, um im Frühling erneut ihre Blätter zu treiben, zu grünen und zu blühen, Früchte auszubilden und zu tragen bis diese reif sind. Ich kann natürlich nicht ermessen wie beschwerlich der Herbst für die Pflanzen und die Tiere ist. Jeder Biologe wird mir jetzt erklären wollen, dass das alles sehr viel differenzierte zu sehen ist. Mag sein, ich sehe es aber vollkommen unwissenschaftlich so, weil ich es so sehen will und weil es mir gerade so passt.
Herbstleben nenne ich es, beim Menschen aber Lebensherbst. Auch wenn es eine Wortspielerei zu sein scheint, so steckt doch mehr dahinter. Ich will nicht auf die Definition eingehen, was verschiedene Religionen zu dem sagen was nach dem Tod kommt, weil nichts davon wahr sein muss, einiges wahr sein kann, aber nichts belegbar ist. Also muss jeder Mensch die Erklärung für sich finden, mit der er gut leben kann. Eins aber ist sicher am Ende des Lebensherbstes eines Menschen steht symbolisch der Winter, aber ein Winter ohne darauffolgenden Frühling.
Jeder Mensch hat seinen individuellen Lebensherbst und jeder Mensch weiß was er nicht haben will ohne wirklich real darauf Einfluß nehmen zu können. Klar, wenn man immer gesund lebt, nie raucht, mäßig trinkt, dann könnte man ja.. doof nur wenn dann ein Auto kommt und überfährt ihn, oder die oft genannte Dachziegel vom Dach eines Hochhauses fällt, gleich nachdem er das Rentenalter erreicht hat. Der andere dagegen hat gehurt und gesoffen und frönt seiner Taten bis er nicht mehr krauchen kann, so mit 90 oder 100 Jahren. Das sind Extreme in beide Richtungen, wer der Glücklichere war, werden wir nie erfahren.
Es gibt den Lebensherbst des Vergessens. Diese Menschen vergessen, wer die Menschen um sie herum sind, egal ob das der Enkel, die Schwiegertochter oder der Sohn sind, die Pflegekraft, oder wer auch immer. Sie haben lange schon vergessen, dass Mutter und Vater längst schon gegangen sind, dass der eigene Partner dies ebenfalls schon vor langen Jahren getan hat. Sie vergessen auf dem Weg zur Toilette wo diese eigentlich wirklich ist und wenn sie drin stehen, dann müssen sie sich besinnen wo das so dringend benötigte Klo ist. Wenn sie essen sollen, oder sich die Zähne putzen sollen, dann können sie das nur, wenn man ihnen zeigt, wie mit dem Werkzeug in der Hand umzugehen ist. Ich weiß, dass es eine Krankheit ist, aber ich kann und will mir gar nicht vorstellen, was es bedeutet so zu werden. Wenn das der Preis für diesen Lebensherbst ist, dann Bestellung will ich die Bestellung erst mal gar nicht aufgeben. Mal ehrlich wer möchte so eine doofe Rechnung freiwillig bezahlen? Die blöden Sprüche über Demenz helfen da auch nicht, denn selbst wenn man in jungen Jahren über die Alzheimerwitze lacht, habe ich auch und werde es wahrscheinlich irgendwann wieder, so es vergeht demjenigen der in irgendeiner Art betroffen ist. Als pflegende Angehörige kann man nichts anderes tun, als Achtung und Respekt zu zeigen, auch wenn das manchmal verdammt schwer fällt. Ich weiß wovon ich rede und wen es interessiert weshalb ich das weiß, der möge meine Artikel unter der Überschrift „Drehbuch Demenz“ lesen. Ihr lieben, allwissenden Wissenschaftler macht mal ein bißchen hinne und findet endlich etwas gegen diesen Mist.
Lebensherbst, der begleitet ist von Krankheit und Schmerz, von Dahinsiechen und maximalem körperlichen Verfall bei klarem Verstand, auch nicht so prickelnd, oder? Als Angehörige bist du so irre hilflos, stehst daneben und weiß nicht, ob der Kranke, der da vor dir liegt nicht mehr will oder nicht mehr kann. Im günstigen Fall hat er keine Schmerzen, sein Kopf würde gern noch ein wenig mitmischen, sein Körper aber sagt: „Niente, mein Freund, keinen Bock mehr!“. Was machst du dann außer dastehen und auf deine Geschwister sauer sein, die sich schon vor Jahren vom Acker gemacht haben. Du bist bereit alles dafür zu tun, damit die deine Mutter, dein Vater, deine Tante, wen immer es da noch gibt, noch erhalten bleibt. Man hat in den seltensten Fällen darüber gesprochen was, wenn der Fall X eintritt und auch die Tatsache, dass es inzwischen sehr viele Menschen gibt, die eine Patientenverfügung haben, so wird es hier so sein wie mit einem Testament: „Ach, heute nicht, das mache ich morgen.“. Vor ein paar Monaten fragte mich meine Mutter aus heiterem Himmel, was nach dem Tod kommen würde. Nun ich war noch niemals bewusst tot, habe keine Ahnung, konnte ihr nur das sagen, was ich selbst glaube, ohne Gewähr darauf, dass das auch den Tatsachen entspricht. Kurz darauf bekam sie einen Herzinfarkt. Nun war sie inzwischen in zwei verschiedenen Krankenhäusern mit anschließenden Rehas und kam jedes Mal kränker wieder nach Hause. Vielleicht nimmt die Natur ihren Lauf und sie und wir ihre Familie können tun was wir wollen, es wird kommen wie es kommen muss. Keine Ahnung, keine Peilung, Hilflosigkeit, Ratlosigkeit, weil ihr Wille allein der ist, der Gültigkeit hat, nicht meiner. Danach habe ich, wenn es sein muss zu entscheiden und ihre Entscheidungen zu respektieren. Auch keine tolle Option eine Bestellung für den Lebensherbst aufzugeben.
Die dritte Art eines Lebensherbstes endet mitten im Leben, plötzlich, schlagartig. Der Mensch geht am Abend guter Dinge schlafen, denkt vielleicht noch, dass es ihm ein wenig komisch ist und am nächsten Morgen ist er tot. Herbst vorbei, aus Ende. Für die Angehörigen ist das bitter. Sie bleiben im ersten Moment im Schock erstarrt zurück, bis sie einsehen, dass das so eigentlich gar nicht so dumm für den Verstorbenen war.
Natürlich gibt so viele Nuancen dazwischen wie es Menschen auf dieser Erde gibt. Ich würde rein intuitiv mich dafür entscheiden wollen, die dritte Art heute schon mal vorsorglich für den Moment zu bestellen, da ich die 90 Jahrgrenze deutlich überschritten habe. Ich werde dann fit sein und man wird sagen, sie wurde mitten aus dem Leben gerissen. Man muss schon mal vorsorgen, denn wenn ich meine Tür öffne und rausschaue, dann in mich gehe, dann sehr ich die ersten Blätter, deren Grün sich bereits verfärbt hat. Ich hoffe mal, dass ich die Lebensherbstbestellung rechtzeitig genug aufgegeben habe. Bis sie umgesetzt wird, werde ich meine Mutter und meine Schwiegermutter, mit Unterstützung meiner Kinder, so gut begleiten wie ich das kann.
Hallo Gitta,
Dein Artikel hat mich nachdenklich gemacht. Wie wird mein Lebensherbst aussehen? Werde ich noch bewußt daran teilnehmen können? Ich kann es nicht beurteilen, wie viel Kraft man benötigt, wenn man Angehörige in ihrem Lebensherbst pflegt. Und Du, liebe Gitta, kümmerst Dich gleich um zwei Personen. Ich finde das super. Und was muß das für ein schmerzliches Gefühl sein, wenn Du diese beiden Personen unterstützt und diese selbst es nicht begreifen können, was mit ihnen geschieht. Aus der Mutter, aus der Schwiegermutter, werden hilflose Personen, wie kleine Kinder, wobei kleine Kinder sich weiter entwickeln, und die zu Pflegenden entwickeln sich zurück, ohne einen neuen Frühling, ohne ein neues Aufblühen. Du kannst stolz auf Dich sein, wenn Du Dich jeden Tag auf ein Neues damit auseinandersetzt. Hut ab!
Ich wünsche Dir ganz viel Kraft auf Deinem Weg.
Herzliche Grüße
Annegret
Hallo Annegret,
ich gebe zu all das ist nicht leicht und in meinem Innern würde ich manchmal einfach gerne irgendwo gehen, ein paar Tage nur, einfach weg. Seele baumeln lassen, nichts tun. Aber ich bleibe, ich bleibe, weil wir eine Familie sind, weil ich Töchter haben, ohne deren Unterstützung all das gar nicht möglich wäre. Vor allem verneige ich mich vor meiner älteren Tochter, die im Moment Unglaubliches leistes. Danke Claudia.
Das was wir tun, wird in unserem Land tagtäglich irgendwo geleistet. Das und noch viel mehr. Ich kann nur stellvertretend für all die Pflegenden, Betreuenden Menschen, die still und ohne großen Worte das tun, was wir in meiner Familie tun.
Danke für Deine lieben Worte, sie haben gut getan.
Herzlich
Gitta
Hallo Gitta,
es ist einfach klasse, was Du und Deine Töchter für die Familie macht. Ich weiß wie schwer es ist, etwas für die Familie zu tun und zu glauben, es kommt nichts zurück. Ich habe einen Sohn mit stark ausgeprägten autistischen Tendenzen (auch nach ewig langer Zeit will keiner der „Experten“ sich festlegen). Bei ihm muß ich erahnen, wie es bei ihm „Drinnen“ aussieht, muß mich auf Äußerlichkeiten verlassen, auf Stimmungen, denn reden kann oder will er nicht über sein „Innenleben“. Und jtzt mit Beginn der „dunklen Jahreszeit“ ist seine Stimmung grau, düster. Da könnte man schon manchmal verzweifeln, möchte alles hinschmeißen. Aber ich habe die Gewissheit, daß nach einem Tief auch wieder ein Hoch kommt.
Und gerade kommt bei uns die Sonne durch. Geht doch!
Viele Grüße
Annegret
Hallo Annegret,
auch wenn ich durch meinen Andreas eine kleine Ahnung habe, so wäre es von mir sehr vermessen mich nun hinzustellen und zu behaupten, dass ich wissen würde, wie Du Dich fühlst. Nein, das kann ich nicht, ich kann allenfalls eine Ahnung haben, aber allein daraus muss ich sagen, dass mir das sehr leid tut, dass Dein Kind solche Probleme hat. Ich bin mir sehr sicher, dass Du, auch wenn das wahnsinnig schwer ist, das Innenleben Deines Sohnes erfühlen kannst. Ihr beide braucht keine Worte.
Es ist schwer als Mutter damit umzugehen und nicht nur, dass man immer mal hinschmeißen möchte, man zweifelt immer zuerst an sich selbst, berührt die Grenze der Verzweiflung und bleibt.
Ich wünsche Dir in diesem Herbst und Winter sehr viele Sonnentage, helles Licht, vielleicht sogar eine Lichttherapie? Aber über all dem vergesse nie Dich selbst.
Herzlich
Gitta
Hallo Gitta,
Nein, aufgeben gibt’s nicht, ist ja schließlich mein Sohn. An mir gezweifelt habe ich in der ganzen Zeit nicht. Ich bin nur ständig auf der Suche nach Möglichkeiten, ihn zu unterstützen und ihm eine gute Basis zu bieten. Zum Glück bin ich da nicht alleine. Mein Sohn besucht ein Förderinternat und dort steht fachkundige Unterstützung zur Verfügung.
Und wenn ich etwas für mich tue, dann geht es mir besser und die neu gewonnene Kraft kann ich mit meinem Sohn teilen.
Danke für Deine Worte.
Viele Grüße
Annegret