Der Tod der alten Frau
Das ist keine Weihnachtsgeschichte, die ich heute am Nikolaustag schreibe, das beschreibt vielmehr den Höllenritt, den eine Frau mit achtzig Jahren in unserem Land leben musste. Versagt haben die Ärzte, das Fallpauschalensystem, einfach alles. Es beschäftigt mich, weil wir das so nicht hinnehmen dürfen, weil die Individualität alter Menschen zu Gunsten besserer Zahlen gekappt werden, weil Operationen durchgeführt werden, über deren Ausmaß man zumindest nachdenken muss.
Greta Garbo, so nannten wir die alte Dame heimlich, war eine sehr agile, lustige und fröhliche Frau. Sie war körperlich nicht groß, erzählte mir, dass sie die Wassergymnastik leider nicht mehr mitmachen könne, denn wenn sie sich platt hinstellen würde, dann wäre sie unter Wasser. Ich habe Tränen gelacht, als sie mir das selbst lachend erzählt hat. Sie konnte herrlich über sich selbst lachen. Sie war einige Jahre nach uns im Haus eingezogen. Mit Ende siebzig umzuziehen, das ist schon heftig, aber die Begutachtung eines Hauses mit betreutem Wohnen, fand sie für sich nicht passend, weil die Portionen des Essens für sie einfach zu klein waren. Reglementiertes Leben war nichts für sie. Sie liebte ihre Freiheit.
Sie schlief gerne und lange, sagte, dass sie erst gegen Mittag richtig warm laufen würde. Eine wirklich tolle Frau. Eines Tages haben wir uns unterhalten und sie machte deutlich, dass sie, wenn sie achtzig Jahre alt wird, aufhören würde, ihre Haare zu färben. Gesagt, getan. Sie ließ sich eine Perücke anfertigen, mit der gleichen Frisur und Haarfarbe, die sie gerade trug, ließ sich ihre Haare abrasieren und als sie weit genug nachgewachsen waren, präsentierte sie das Ergebnis, mit dem sie allerdings nicht so wirklich zufrieden war. Zuerst, dann schon.
Jetzt ist sie gegangen, vor zwei Wochen ungefähr hat sie ihrem Leben ein Ende bereitet. In der Woche davor habe ich sie noch draußen laufen gesehen. Unsere kleine Greta Garbo ist nicht mehr. Keine witzigen Sprüche und Anekdoten mehr. Bleibt die Frage nach dem Warum. Nachdem, was ich weiß, kann ich verstehen, dass sie ihrem Leben ein Ende gesetzt hat. Selbst bestimmt, selbst den Zeitpunkt bestimmt, nachdem sie sich von ihrer Familie fröhlich mit einem Glas Sekt verabschiedet hat. Ihre Schwester erzählte mir, dass sie fröhlich in den Tod gegangen ist, ein kleiner Trost vielleicht. Sie wusste sicher nicht, dass das Glas Sekt der Abschied gewesen war. Sie hat den Weg des Suizids gewählt.
Ich hatte sie eine Weile nicht gesehen und traf sie dann draußen und im Sommer, fragte sie, wo sie sich versteckt hätte und sie erzählte: Man habe ihr beide Brüste abgenommen, weil sie Brustkrebs habe, in einer Brust wuchs eine aggressive Form heran, in der anderen eine weniger aggressive. Zur Operation bewegte man sie damit, dass man ihr erklärte, wenn sie das nicht machen würde, dann könne es passieren, dass der Krebs nach „außen“ wächst. Keine Alternative, kein anderes Angebot, als die totale Amputation, totales Ausräumen von allem, was mit Brust zu tun hatte, ohne eine nachfolgende Chemotherapie, ohne Bestrahlungen. Sie war ja inzwischen achtzig Jahre alt, wen schert das, ob sie Brüste hat oder nicht.
Greta Garbo hat sich auf das alternativlose Angebot eingelassen, ihr wurden beide Brüste amputiert. Nach fünf Tagen entließ man sie aus dem Krankenhaus, jeden weiteren Tag Verweildauer sollte sie selbst bezahlen. Dank Fallpauschalen habe ich davon öfter gehört, dass die Menschen nach fünf Tagen medizinisch entlassen werden, dann einen weiteren Aufenthalt aus eigener Tasche bezahlen müssen. Diese Frau war achtzig Jahre alt, vollkommen verzweifelt ob der OP, die ihr Narben bescherte, wie sie sich das im Traum nicht ausgemalt hatte. Man schickte sie nach fünf Tagen nach Hause. Verstümmelt, ohne Brüste, mit Narben, wo keine sein sollten. Sie erzählte, dass sie sich wie in einem Panzer fühlte, eingepfercht, eingeengt von den Narben, die ihr den Platz zum Atmen nahmen. Sie hatte Schmerzen und Pein, für sie war ihr Leben nicht mehr lebenswert.
Ich schaute ihr in die Augen und da war nichts mehr, nicht das, was sie ausgemacht hatte, das Feuer ihres Alters, das Feuer ihrer Aktivität war erloschen. Ich verstehe nicht, warum man einer Frau in diesem Alter, wenn ohnehin keine weitere Therapie erfolgen soll, einer derartigen Operation unterziehen muss. Reicht es dann nicht, den einen oder anderen besonders aggressiven Knoten herauszuschneiden? Muss das in dem Alter immer gleich die Radikalmethode sein? Was denken sich die Chirurgen dabei? Oder dürfen da dann doch mal Studenten ran? Haben diese Menschen so wenig Gefühl. Ich bin der Überzeugung, dass sie sich auf eine schonendere OP, mit dem Wissen, dass sie sterben wird, eingelassen hätte. Ihre Angst davor, dass der Krebs nach außen brechen könnte, die hätte man ihr nehmen müssen. Sie war eine intelligente Frau, man hätte ihr das erklären müssen, dass ihr Leben, auch nach einer radikalen OP endlich und sehr viel beschwerlicher sein würde. 16 Lymphknoten waren entfernt worden, sie hatte inzwischen erhebliche Flüssigkeitsansammlungen in ihrem Körper. All das hätte man ihr ersparen können. Sie palliativ zu begleiten, nur den Tumor so begrenzt wir nur möglich herausoperieren, wären ein deutlich höheres Level an Qualität gewesen.
Sie hat sehr gerne und gut gelebt und nicht der Krebs hat ihr die Lebensqualität genommen, sondern Chirurgen, die augenscheinlich nicht genug Arsch in der Hose hatten, ihr die Wahrheit, die Konsequenzen aus einer radikalen Amputation zu erklären. Sie hätte das sicherlich niemals so machen lassen. Ich habe in der letzten Zeit eine ganze Menge gehört, was mit alten Menschen gemacht wird und ich habe den Eindruck, dass die Medizin davon ausgeht, dass sie das machen kann. Beispiele gibt es genug, z.B. einen alten Menschen zur Hüft-OP am Tag der Operation ins Krankenhaus kommen zu lassen, was aber wegen der immensen Behinderung nicht möglich war. Dieser Mensch konnte einen Tag vor der OP ins KH kommen, musste diese Übernachtung allerdings selbst bezahlen. Greta Garbo erzählte mir noch einen ähnlichen Fall, wo ein alleinstehender Mensch ebenfalls nach fünf Tagen entlassen wurde und weitere Übernachtungen selbst zu bezahlen hatte. Was ist aus der Menschlichkeit der Medizin geworden? Wo ist sie hingegangen? Das greift um sich, so verdient man an der Fallpauschale: Weniger Tage als veranschlagt und mehr noch anschließende oder vorgehende Übernachtungen aus eigener Tasche. Supersystem!
Vor etwas mehr als einer Woche erfuhr ich, dass Greta Garbo nicht mehr hier ist, dass sie gegangen ist und ich hatte das Gefühl, dass die das freiwillig gemacht hat. Gestern nun habe ich ihre Schwester getroffen, habe ihr kondoliert und wir haben ein wenig geplaudert und sie hat erzählt, wie es abgelaufen war und, dass sie ihre Schwester gefunden hatte. Alles gut, das konnte man der wirklich lieben Frau nicht nehmen, dass sie selbst bestimmt hat, wann sie ihr Leben als nicht mehr lebenswert empfand. Das gilt es zu respektieren, denn es war ihr Wille und der war gut für sie. Vielleicht wäre sie ohne diese radikale OP auch zu diesem Zeitpunkt gegangen, oder hätte noch eine längere gute Zeit gehabt, auf jeden Fall aber wäre ihr Einiges erspart geblieben. Ich verneige mich vor der kleinen quirligen Frau, vor Greta Garbo, deren Art zu erzählen, deren Lachen immer andere mitgerissen hat. Sie hat jetzt ihre Ruhe gefunden und unsere kleine Welt hier einen wahren Verlust erlitten.
Nicht alles, das die Medizin anbietet, ist gut und ich würde mir wünschen, dass Studenten während ihrer Ausbildung auch Fingerspitzengefühl lernen, sofern sie es nicht haben. Ich wünsche mir, dass man sich die Fallpauschalen anschaut und das System, dass Menschen für Übernachtungen im Krankenhaus aus eigener Tasche bezahlen müssen, wenn sie sich noch zu schwach fühlen, um für sich selbst zu sorgen. Ich wünsche Euch eine schöne Adventszeit, wünsche Euch immer viel Gesundheit und: Laßt es Euch gut gehen!